© Hildegard Schaefe
Jemand hat Beate Seidler gesehen
Der Hüttenwirt schaute aus dem Fenster in die schneebedeckte Landschaft. Der Himmel war endlich blau nach dem gestrigen Nebel und der Wetterbericht gab grünes Licht. Vor drei Stunden zog sein Sohn Sebastian mit einer Gruppe Touristen in die Berge. Diesmal sollte die Wanderung in ein gefährlicheres Gebiet gehen, dort wo die Hausruine der Familie Seidler stand. Von dieser Anhöhe aus war der Blick in das Tal wunderschön und bei einem Wetter wie heute bestand keinerlei Gefahr.
Das junge Paar in der Ecke zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte die beiden in den letzten Tagen öfters gesehen, jetzt hörte er sie erregt miteinander streiten, die anderen Gäste schauten bereits unwillig zu ihnen hin.
Nun kam der Mann aus der Ecke auf ihn zu. “Ich möchte bezahlen, wir sind heute genug Ski gefahren und meine Frau fängt schon an, Gespenster zu …“
„Das war kein Gespenst, ich spinne doch nicht“, fiel sie ihm ins Wort. Sie war aufgestanden und zu den beiden getreten. „Ich möchte Sie etwas fragen“, wandte sie sich an den Wirt, „ist gestern ein junges Mädchen zu Ihnen gekommen, zu Fuß, nicht mit dem Sessellift, der war ja wegen des Nebels abgeschaltet?“
Ihr Begleiter verzog spöttisch den Mund. „Sie bildet sich ein, ein Kind gesehen zu haben, so ein Unsinn.“
Auf ihrer Stirn entstand eine Zornesfalte und sie zischte ihn an: „Ich habe sie gesehen, aber du hast ja sonst wo hingeschaut, als ich sie dir zeigen wollte. Da war sie natürlich im Dunst verschwunden.“
„Was war das für ein Mädchen?“, wollte der Hüttenwirt wissen.
„So ungefähr. zwölf Jahre, vielleicht etwas älter. Ich konnte sie kaum erkennen, hätte sie nicht so langes, dunkles Haar gehabt. Sie trug weiße Kleidung, es sah aus wie ein langer Mantel. Ich weiß, das klingt merkwürdig,“ räusperte sie sich nun, „aber sie ging auch noch irgendwie komisch.“
„Wie meinen Sie das?“, bohrte der Wirt nach und schaute sie forschend an.
„Na, sie hatte bestimmt keine Skier an. Vielleicht Schneeschuhe, aber sie ging beinahe so, als ob sie schweben würde“, schüttelte sie den Kopf.
Ihr Mann schaute den Wirt amüsiert an. „Sehen Sie, … als ob sie schweben würde“, und tippte sich bezeichnend an den Kopf.
„Moment, Moment, ich muss mehr darüber wissen“, fragte der Wirt nach. „Wann war das, wissen Sie das noch?“
„So gegen 15 Uhr. Hannes meinte noch, es wäre Quatsch, so spät noch Ski zu fahren, und ich hatte auch solche Kopfschmerzen. Und dann war der Lift sowieso außer Betrieb, den Weg hätten wir uns sparen können.“
Ihr Mann meinte, nun freundlicher geworden, „ du hattest ja ein starkes Medikament genommen, da sieht man manchmal Merkwürdiges, vielleicht waren das die Nachwirkungen?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß doch, was ich gesehen habe, Sie glauben mir doch wenigstens?“, schaute sie den Wirt bittend an.
Er schaute auf die Uhr und überlegte, dann sagte er geistesabwesend. „Hier in den Bergen ist manches anders, vielleicht, weil wir dem Himmel näher sind. Es gibt da so ein Mädchen, Beate Seidler, die hat man schon öfters gesehen.“
„Siehst du“, drehte sie sich triumphierend zu ihrem Mann um, „schon öfters gesehen“, wiederholte sie die letzten Worte des Wirtes.
Nachdem sie bezahlt hatten, verließen sie Händchen haltend die Berghütte, dabei knuffte sie ihm lachend gegen den Arm.
Der Wirt schaute ihnen sinnend nach, dann ging er in die Küche. „Martha, jemand hat Beate Seidler gesehen. Und Sebastian ist auf dem Weg zum Haus.“
Sie schaute ihn bestürzt an und fragte tonlos: „Wann?“
„So gegen 15 Uhr, ich muss ihn anrufen.“
Jeder im Tal kannte die Geschichte der Familie Seidler. Sie hatten oben auf dem Berg ein Haus gebaut. Es war gerade fertig als der Mann mit Frau und Tochter Beate einzog. Sie ließen ihr Kind für einen Tag alleine – sie war alt genug mit ihren 14 Jahren.
Und dann kam die Lawine.
Man fand sie später, nachdem der Schnee weggeräumt war. Das dunkle Haar offen und sie war mit Nachthemd und einem weißen Bademantel bekleidet. Seitdem, so erzählt man, wurde sie immer einen Tag vorher gesehen, wenn eine Lawine die Hausruine der Seidlers wieder unter sich begrub.
Sebastian würde enttäuscht sein, dachte der Wirt. Aber noch war Zeit, er würde einen anderen Weg nehmen müssen. Er glaubte, wie so viele andere Dorfbewohner auch, weniger an den Wetterbericht als an das Mädchen im Nebel.