Oma Hildegards merkwürdige Geschichten?

Hildegard Schaefer

Biographie

Hildegard Schaefer wurde 1949 in Lauenburg geboren und lebt seit 1954 in Buchholz / Nordheide

Seit 2003 istsie Mitglied bei den Freien Deutschen Autoren, vorher und jetzt ist sie Teilnehmer in verschiedenen regionalen Schreibgruppen, hält Lesungen, gibt Workshops und ist mit Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien vertreten.

Hildegard ist Mitglied in der AWO-Buchholz

Sie schreibt uns alle 4 Wochen eine neue Geschichte.
(um den fünfzehnten des Monats)

© Hildegard Schaefer 15/5/25

Unsere Öffentlichen

Lag das jetzt am Grauen Star oder war noch was anderes mit ihren Augen? Henriette starrte die Tafel mit den Busverbindungen an und sah nur verschwommene Buchstaben und Zahlen.

„Entschuldigung, wann fährt der nächste Bus nach Wedel?“, fragte sie schließlich ein junges Mädchen neben sich.

„Wedel, das ist doch die 2024, da sind sie her völlig falsch. Hier ist die 2029. Aber ich erkläre Ihnen gerne, wie Sie da jetzt hinkommen, das ist nämlich schwierig. Also über die Straße rüber, beim Italiener rechts ab und dann links beim Chinesen die Straße runter.“

„Danke“, sagte Henriette und räusperte sich. 2024 und 2029, wie konnte ihr das nur passieren.

„Entschuldigung, kann ich ihnen helfen?“ Ein älterer Herr trat auf sie zu. „Ich habe gerade ihr Gespräch mitverfolgen können. Ich bringe Sie gerne zur 2024, ich wohne hier gleich um die Ecke, aber ich könnte Sie auch nach Wedel fahren, wenn Sie möchten.“

„Wenn Sie das für mich tun könnten, das wäre sehr nett. Aber Sie wollten doch auch mit dem Bus fahren. Es tut mir leid, wenn ich ihre Pläne so durcheinanderbringe.“

„Das ist kein Problem für mich. Ich wollte eigentlich nur meiner Tochter Guten Tag sagen, aber sie rechnet um diese Mittagszeit gar nicht mit mir. Vielleicht ist sie ganz froh, dass ich sie heute nicht besuche. Ich glaube sowieso, dass ihr das gar nicht immer so recht ist. Sie meint, ich solle mir endlich einen Freundeskreis aufbauen und wieder unter Leute gehen. Seitdem ich Witwer bin macht sie sich große Sorgen um mich und will mir mein Leben vorschreiben. Aber wen soll ich dann besuchen? Meine Freunde sind alle verstorben.“

Henriette warf einen letzten Blick auf die Bushaltestelle. Normalerweise wurde sie von zu Hause abgeholt, aber ihre Tochter hatte heute das Auto zur Reparatur gebracht und ihr dann die Busverbindung telefonisch durchgeben. Henriette hatte die 4 wahrscheinlich mit der 9 verwechselt, beide schrieb sie ähnlich.

„Haben Sie Probleme mit ihren Augen gehabt?“, fragte sie der Mann. “Sie hätten  doch sehen müssen dass es nicht die 2024 war, an der sie standen.“

„Ja, das hätte ich. Vielleicht habe ich es mir falsch aufgeschrieben, aber das mit den Augen, das wird immer schlimmer.“

„Da kann ich Sie beruhigen, diese Probleme hatte meine verstorbene Frau auch. Ich kaufte ihr daraufhin eine Lupe, die sie immer bei sich führte um z. B. die Busabfahrzeiten besser lesen zu können. Doch nach der Augenoperation hatte sie dann schlagartig keine Probleme mehr. Ich kann Ihnen nur dazu raten, sich operieren zu lassen.“

Henriette kniff die Augen zusammen, als sie ins Auto stieg. „Ich werde mir Ihren Rat zu Herzen nehmen.“

Als sie ausstieg, sah sie ihre Tochter neugierig die Gardine vor dem Küchenfenster wegziehen. „Oh, du hast eine Eroberung gemacht? Wie heißt er denn?“, begrüßte sie ihre Mutter.

„Nun mach mal halblang. Ein freundlicher Mann mit einem funktionierenden Auto, der mich netterweise zu dir gefahren hat, mehr ist da nicht.“

„Was nicht ist, kann ja noch werden, wäre schön, wenn ich mir weniger Sorgen um dich zu machen bräuchte. Seit Papa tot ist, bist du nicht mehr unter Leute gegangen, das ist nicht gut für dich. Was blinzelst du denn so?“

„Ach, ich habe nur gerade gedacht, dass es manchmal merkwürdige Zufälle gibt. Und jetzt habe ich die Adresse von einem Augenarzt in der Tasche. Wenn ich Glück habe, dann werde ich vielleicht bald wieder besser sehen können, Aber du hast ja recht, Kindchen, ich bin andere Menschen als dich schon gar nicht mehr gewohnt. Vielleicht ist es ganz gut, wenn mir die Augen geöffnet werden. Es gibt noch so viel Schönes auf der Welt zu sehen. Papa hätte nicht gewollt dass ich so wenig außer Haus bin, das werde ich ändern, das habe ich mir fest vorgenommen. Und übrigens, du brauchst mich nicht mehr abzuholen. Ich muss lernen, mit unseren öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren. Da trifft man nämlich interessante Menschen. Und mit dem, der mich zu dir gebracht hat, habe ich morgen eine Verabredung. Er hat auch so eine Tochter wie ich. Da haben wir uns bestimmt Einiges zu erzählen.“