Hildegard Schaefer
Biographie
Hildegard Schaefer wurde 1949 in Lauenburg geboren und lebt seit 1954 in Buchholz / Nordheide
Seit 2003 istsie Mitglied bei den Freien Deutschen Autoren, vorher und jetzt ist sie Teilnehmer in verschiedenen regionalen Schreibgruppen, hält Lesungen, gibt Workshops und ist mit Kurzgeschichten in verschiedenen Anthologien vertreten.
Hildegard ist Mitglied in der AWO-Buchholz
Sie schreibt uns alle 4 Wochen eine neue Geschichte.
(um den fünfzehnten des Monats)
© Hildegard Schaefer 15/12/2025
Das Haus verliert nichts
Es war ein paar Tage vor Weihnachten. Gertrud ahnte, was kommen würde, als sie ihre Tochter die Treppe herunterpoltern hörte. „Mama, zu Weihnachten wollen wir zu Heiners Eltern fahren. Es ist ja schön, dass wir in dein Haus ziehen durften, aber du weißt ja, es ist ziemlich renovierungsbedürftig. Und oben zu wohnen ist auch nichts für meinen Heiner, denk an sein Knie, – und bald sind wir ja zu dritt.“
„Was soll das heißen, Angelika?“
„Na ja, Mama, wenn du endlich den Schmuck deiner Mutter finden würdest, wären wir aus dem Schneider und dann könnten wir einen Anbau für dich machen und das Haus auf Vordermann bringen.“
„Das Haus verliert nichts, mein Kind. Lass mich nur in Ruhe überlegen, wo ich den Schmuck hin geräumt habe. Das kann ich natürlich nur, wenn ich in meinen eigenen vier Wänden bleibe“.
„Na gut, dann muss ich deutlicher werden. Wir möchten, dass du über die Feiertage in eine Seniorenresidenz gehst – nur für kurze Zeit – du bist seit deiner Lungenentzündung noch nicht wieder ganz ok und so müssen wir uns keine Sorgen um dich machen.“
Widerstrebend packte Gertud ihren Koffer und ließ sich zu dem Altenheim fahren.
„Und Mama, vergiss nicht – fang nicht wieder damit an. Das sind hier arme Leute, denen kannst du das nicht antun.“
„Kind, ich habe meine Lektion gelernt, im Gefängnis zu sitzen hat mich kuriert. Ich werde ganz brav sein, ihr werdet keinen Grund zur Klage haben. Und jetzt „Frohe Weihnachtenn und Tschüss.“ Gertrud ging widerstrebend auf das Haus zu. Natürlich war sie geheilt – nie wieder würde sie so etwas tun.
Die Frau Müller, die sich gleich um sie kümmerte, fand sie sehr sympathisch. Abends wurde sie als Neuzugang den anderen Senioren vorgestellt. Die Stimmung in dem Raum, wo das Essen stattfand, war genau das, was sie sich vorgestellt und befürchtet hatte: Resignation, Freudlosigkeit, warten auf den Tod. Als sie ihren Vornamen sagte, erwähnte sie nebenbei, dass sie mit Begleitung gekommen wäre. Ihr Hauskobold wäre mit ihr gekommen und würde wohl auch wieder mit ihr zurückgehen. Niemand bräuchte vor ihm Angst zu haben, er sei ein ganz lieber, neige aber leider dazu, Schabernack zu treiben wenn ihm etwas nicht passt. Die alten Herrschaften an den Tischen horchten auf.
„Einen Kobold haben sie mitgebracht, ach, Liebe, Kobolde gibt es doch gar nicht, das bilden Sie sich nur ein“, sagte Erna, die mit ihr am Tisch saß. Frau Müller sagte dazu nichts, schaute sie interessiert an und meinte nur: „Na, dann wollen wir die beiden Neuzugänge herzlich willkommen heißen. Hat ihr Kobold auch einen Namen?“
„Nein – einen Namen braucht man doch nur, um den einen vom anderen zu unterscheiden , aber soviel ich weiß, ist er der einzige weit und breit. Er kann leider nicht richtig reden, müssen sie wissen …“ Die anderen Bewohner, die ihr Abendbrot schweigend aßen, tippten sich bedeutungsvoll an den Kopf.
Am nächsten Tag sagte ihre Tischnachbarin Erna zu ihr: „Sagen Sie, hatte ich nicht gestern eine Perlenkette um den Hals, als Sie gekommen waren?“
„Nicht dass ich wüsste“, erwiderte Gertrud bestimmt.
„Ich weiß es leider auch nicht mehr, aber ich habe ja noch andere Ketten in meinem Nachttisch.“ „Es findet sich alles wieder an, das Haus verliert nichts“, tröstete sie Gertrud. Einer von den Männern kam mit Schuhen zum Frühstück. „Meine Puschen sind weg – ich habe keine Ahnung, wo ich sie hingestellt habe“. Erna rief: „Die hast du doch bei mir hingestellt, ich war ganz überrascht, was für große Füße ich über Nacht bekommen habe, aber meine hab‘ ich noch nicht gefunden, hier hast du deine.“.
Eine andere Frau meldete sich: „ Erna, sind denn das deine? Ich habe mich schon gewundert, warum ich auf einmal so schreckliche rosa Dinger vor der Tür hatte.“
Gertrud stemmte die Fäuste auf die Hüften. „Ich habe euch doch gesagt, dass ein Kobold mit mir gekommen ist. Er hat euch den Schabernack gespielt, irgendwas scheint ihm hier nicht zu gefallen. Bei mir zu Hause passiert nur manchmal was, wenn ich vergesse, ihm zur Nacht ein Schlüsselchen Milch hinzustellen.“
„Na, ich weiß nicht. Kommt auf einen Versuch an“, meinte Erna zögerlich. „ Frau Müller, darf ich mir eine Schüssel Milch heute Nacht vor die Tür stellen?“
„Aber sicher doch, wenn Sie meinen, dass der Spuk dann aufhört?“, amüsierte sie sich und schaute Gertrud neugierig an.
Am anderen Tag war helle Aufregung im Frühstücksraum. Erna fuchtelte mit den Händen: „Ich habe da irgendwas Kleines den Gang herunterhuschen sehen, und wie ich mich umdrehte, ist doch meine Brille weg!“
„Ich dachte, du wolltest ihm eine Schüssel Milch hinstellen, Erna?“
„Hab‘ ich vergessen, aber heute Abend tue ich‘s ganz bestimm.“ Gertrud zuckte mit den Schultern. „Ich war ja noch nie mit ihm weg, er ist wohl völlig durch den Wind, ein Esslöffel Milch reicht ihm aber.“
Beim nächsten Frühstück lag Ernas Brille eingepackt in einer Weihnachtsserviette neben ihrer Kaffeetasse. Und in einer anderen Serviette war die Perlenkette.
„Siehst du“, sagte Gertrud, „jetzt hast du alles richtig gemacht“. Frau Müller schmunzelte. Die Stimmung im Raum war aufgekratzt, bis jemand plötzlich sagte: „Mir fehlt mein Portemonnaie – irgendjemand klaut hier“, und schaute Gertrud dabei herausfordernd an. Sie beschwichtigte ihn. „Bei Erna hat es geholfen, vielleicht sollten Sie auch eine kleine Schüssel mit Milch vor Ihre Tür stellen.“ Den nächsten Morgen hielt er triumphierend sein Portemonnaie hoch. „Ich hab‘s ja nicht glauben wollen, aber es funktioniert wirklich. Heute Morgen war die Schale mit Milch leer, und daneben lag meine Geldbörse.“
Erna meldete sich: „Ich hab mich schon gewundert, warum da eine Geldtasche auf dem Boden liegt, aber jeder hat sein eigenes Zimmer und kann vor die Tür legen, was er möchte. Jedenfalls will ich dir mal was sagen: Hier klaut bestimmt keiner, und nur weil das alles mit Gertrud anfing, kannst du sie doch nicht gleich verdächtigen. Sie hat ja gesagt, dass sie einen Kobold mitgebracht hatte. Übrigens, wie sieht er eigentlich aus, Gertrud?“
„Ihr könnt ihn nicht sehen, das kann wohl keiner, meine Tochter auch nicht. Selbst ich habe manchmal Schwierigkeiten und sehe ihn nur, wenn er glücklich und zufrieden ist und schläft“. Frau Müller hustete und meinte kurz: „Na, wenn das so ist, dann hoffen wir, dass er bald glücklich und zufrieden ist. Denn heute Nacht hat er schon wieder Unfug getrieben, hat mir die Nachtwache gesagt. Er hätte bei ihr in der Küche, als sie gerade aus dem Raum ging, das Radio so laut gedreht, dass sie schon dachte, jeder müsste davon aufwachen“.
Erna warf ein: „Schale mit Milch, das hilft. Sagen Sie ihr das“.
In dieser Nacht standen schon mehrere Schalen mit Milch vor den Türen. Frau Müller verkündete, die Nachtwache hatte die Schüsseln eingesammelt, sie waren allesamt leer, auch die, die sie vor die eigene Tür gestellt hatte. Aber gesehen hatte sie nichts“
Die Leute im Frühstücksraum lachten und unterhielten sich angeregt. Frau Müller besuchte Gertrud auf ihrem Zimmer: „So fröhlich habe ich die Gäste hier noch nie erlebt, ich habe der Nachtwache gesagt, dass sie die Schälchen zum Morgen einsammeln soll, das ist doch so in Ordnung?“ sie schmunzelte, als sie das OK bekam und verließ das Zummer.
Gertrud begann sich in der Einrichtung wohler zu fühlen. Sie war die Frau mit dem Kobold, das hatte schon was. Jeder lächelte ihr freundlich zu und verhielt sich ihr gegenüber respektvoll. Ab und an vermisste jemand Sachen, der keine gefüllte Schüssel vor die Tür gestellt hatte. Sie dachte an ihr Zuhause und an ihre Tochter, und überlegte, ob Kobolde mehr zum Haus als zu einem Menschen gehören würden. Sie würde ihrer Tochter sagen, wo sie die Schachtel mit dem Schmuck ihrer Oma finden würde, denn – das Haus verliert nichts.
Die, die in der Seniorenresidenz über die Feiertage blieben, waren am Heiligen Abend sehr fröhlich. Sie standen singend um den Weihnachtsbaum herum, und sahen lächelnd auf die vielen Schalen mit Milch, die dekorativ unter ihm drapiert waren.
